Sie war 25, als die Verfolgung begann. Zar Amir Ebrahimi war damals eine populäre und überaus präsente Schauspielerin in Teheran, sie spielte eine Hauptrolle in «Nargess», der bis anhin grössten iranischen TV-Serie. Sie und ihr damaliger Freund hatten aus Spass ein intimes Video alias Sex-Tape gedreht, es wurde geleakt, und weil die beiden nicht verheiratet waren, galt der private Akt als Verbrechen.
Zar Amir Ebrahimi erhielt ein Berufsverbot für die nächsten zehn Jahre, war arbeitslos, Freunde und Familie wurden verhört, sie wagte sich nicht mehr auf die Strasse. Das war zwischen 2006 und 2008. «Die Behörden taten alles, um mich noch hilfloser zu machen und mir noch mehr Angst einzujagen. Ich glaube, irgendwann wollten sie, dass ich Selbstmord begehe», sagte sie 2022 in einem Interview. 2008 ist klar, was sie erwartet: Gefängnis und 99 Peitschenhiebe. Sie flieht nach Paris. Ihre Heimat hat sie seither nicht mehr gesehen.
Sieben Jahre lang arbeitet sie als Kellnerin und Babysitterin, dann kehrt sie langsam wieder zum Film zurück, als Synchronsprecherin, in Kurzfilmen, als Nebendarstellerin. 2022 dann das Comeback: Als Journalistin, die in «Holy Spider» einen historischen iranischen Prostituiertenmörder überführt. Gedreht hat ihn Ali Abbasi, ein iranischer Regisseur, der in Dänemark im Exil lebt. Sie wird dafür in Cannes zur besten Schauspielerin gekürt.
Im Frühjahr 2023 gewinnt ihr neuer Film «Shayda» den Publikumspreis in Sundance. Gedreht hat ihn Noora Niasari, eine iranische Regisseurin, die in Australien im Exil lebt. Produzentin des Films ist Cate Blanchett. Eigentlich hätte Blanchett als Superstar das Filmfestival Locarno abschliessen sollen, doch im Zuge des Hollywood-Streiks hat sie ihre Teilnahme zurückgezogen. Niasari und Ebrahimi sind gekommen. Und für einmal ist es wohl besser, dass Blanchett nicht hier ist, sie hätte sonst zu viel Aufmerksamkeit von den beiden Frauen abgezogen.
«Shayda» erzählt die Geschichte von Niasaris Mutter, die in den 90er-Jahren mit ihrem Mann nach Australien gezogen ist, um dort Medizin zu studieren, doch was als moderne Beziehung zwischen zwei Akademikern beginnt, verwandelt sich von Seiten des Mannes her immer stärker in eine traditionelle iranische Ehe, bis es zu Tätlichkeiten kommt und Shayda samt ihrer kleinen Tochter Mona ins Frauenhaus zieht. Sie will die Scheidung und das alleinige Sorgerecht, es entwickelt sich ein zäher Kampf, Mutter und Tochter befinden sich ständig vor dem Vater auf der Flucht, schliesslich steckt er das Frauenhaus in Brand und endet im Gefängnis. Für Shayda gibt es kein Zurück mehr in den Iran. Sie will eine freiere Zukunft für ihr Kind.
Eingebettet ist das Ehedrama in Erzählungen über verschiedene Mikrogemeinschaften – das Frauenhaus, die iranische Diaspora in Australien oder die Beziehung von Oma, Mutter und Tochter, die wie eine weibliche Parallelgesellschaft hinter der Mann-Frau-Fassade einer konservativen Ehe funktionieren. Ein trauriger, beklemmender und dann doch wieder Hoffnung machender Film.
Jetzt sitzen Ebrahimi und Niasari im ersten Stock des Hotel Belvedere, in einem klinisch weissen Salon mit Blick über Locarno und Lago Maggiore, am Abend wird «Shayda» vor 8000 Menschen auf der Piazza Grande laufen. Uns bleiben ein paar Minuten.
Zar Amir Ebrahimi, Sie haben «Holy Spider» ...
Ebrahimi: ... Ich will nicht über «Holy Spider» reden, ich will über Nooras Film reden!
Dazu wäre ich gleich gekommen. Sie selbst leben im Exil, Sie haben «Holy Spider» mit einem Regisseur gedreht, der im Exil lebt, Sie haben «Shayda» mit einer Regisseurin gedreht, die im Exil lebt: Ist eine wirklich kritische Perspektive auf den Iran nur noch von ausserhalb möglich?
Niasari: Aha, Sie wollen uns in eine Schublade stecken.
Nein, das will ich nicht, das täte mir leid.
Niasari: Doch, das haben Sie soeben getan. Das Ding ist, mein Drehbuch war fertig, bevor die Situation im Iran eskalierte, also vor der Ermordung von Mahsa Amini. Er ist von meiner persönlichen Geschichte inspiriert, von meiner Zeit in einem Frauenhaus, als ich fünf Jahre alt war. Dass die Revolution der Frauen im Iran begann, als wir in der Postproduktion des Films steckten, war ein Zufall.
Ebrahimi: Klar sind wir Iranerinnen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es in Frankreich, Italien oder Deutschland weniger Frauen gibt, die unter Gewalt leiden.
Wie dumm meine Einstiegsfrage wirklich war, merke ich am nächsten Tag, als mit «Mantagheye bohrani (Critical Zone)» ein iranischer Film den goldenen Leoparden von Locarno gewinnt, der im Iran gedreht wurde. Regisseur Ali Ahmadzadeh hat ohne Bewilligung der Behörden und mit Laien einen Film über das Nachtleben in Teheran gedreht. Seither wird er regelmässig verhört und darf nicht mehr aus dem Iran ausreisen. «Ich weiss nicht, wie es Ali jetzt geht», sagt sein Produzent Sina Ataeian Dena, der selbst in Berlin lebt, in Locarno an einem Podium, «alle, die jetzt Kunst machen, sind in Gefahr.» Neben ihm steht ein leerer Stuhl, auf dem Namensschild steht der Name von Ali Ahmadzadeh, Locarno hat alles versucht, ihn in die Schweiz zu kriegen, der leere Stuhl ist ein Mahnmal.
Apropos universell: Ihr Film spielt meist in einem Frauenhaus, wir begegnen der Iranerin Shayda, aber auch einer Britin und einer Asiatin, die mit ihren Kindern Zuflucht suchen. Da entsteht tatsächlich ein universeller Ort des weiblichen Leidens.
Niasari: Es geht nicht nur um weibliches Leiden, es geht dort auch ganz stark darum, seine eigene Identität wieder aufzubauen, Sicherheit zu finden, Hoffnung für die Zukunft und Freundschaft. Die grösste Herausforderung dabei war für mich, Selina, die die fünfjährige Mona spielt, vor dem Film zu beschützen, vor seinen Themen, ich wollte nicht, dass sie davon traumatisiert wird. Sie wusste nie, was wirklich passierte, wir erfanden immer positive kleine Geschichten um die Episoden herum, die möglicherweise verängstigend hätten sein können. Sie weiss bis heute nicht, worum es geht.
Ebrahimi: Selina war ein Wunder, immer zufrieden, immer verständnisvoll und obwohl ich keine Mutter bin, hatte ich für sie echte Muttergefühle und wusste, was Shayda fühlte, als sie beschloss, restlos alles für ihre Tochter zu tun.
Hat sie den Film gesehen?
Niasari: Ich habe eine «kindersichere» Fassung geschnitten, die war nur noch 15 Minuten lang und die habe ich ihr und ihrer Familie gezeigt. Sie konnte kaum fassen, dass dieses kleine Mädchen auf der Leinwand sie war, inzwischen war sie gewachsen und hatte ihre Milchzähne verloren und wirkte wesentlich älter.
Es geht ja aber nicht nur um Selina, sondern auch um Sie. Mona ist schliesslich auch die fünfjährige Noora Niasari.
Niasari: Ja, das war schwierig, dieses Abtauchen in die eigene Vergangenheit, die Last, meine Geschichte erzählen zu wollen und gleichzeitig Regie führen zu müssen, so viele Leute souverän führen zu müssen. Beim Dreh steckte ich immer in einem Doppelleben.
Ebrahimi: Für mich war das Einschneidenste, dass ich durch die Geschichte von Shayda lernte: Es geht nicht darum, ein Trauma zu bewältigen, es geht darum, damit zu leben. Vergessen kann man es nie, es bleibt bei dir, bis du stirbst. Man muss einen Umgang finden, der erträglich ist. Während des Drehs verlor ich vier, fünf Kilos und weinte viel, so nahe ist mir das alles gegangen.
Für Shayda ist das Trauma vor allem der Verlust der Heimat. Sie versucht ihn damit wettzumachen, dass sie mit Mona das persische Neujahrsfest Nouruz in allen Details feiert.
Ebrahimi: Nouruz ist ein Frühlingsfest, doch in Australien ist Winter, es ist ein Widerspruch, so wie vieles in Shaydas Leben widersprüchlich ist. Sie will dieses unschuldige kleine Kind vor einem möglicherweise gewalttätigen Vater beschützen, doch gleichzeitig will sie den Vater auch nicht dämonisieren, auch das gehört zum Schutz des Kindes. Noora ist unglaublich gerecht an diese Vaterfigur herangegangen, hat ihn nie verurteilt.
Ich fand es herzzerreissend, wie wir ein Paar sehen, das aufgeklärt und gebildet ist, aber gleichzeitig diese archaischen Seiten hat. Auch Shaydas Obsession mit Nouruz ist archaisch.
Ebrahimi: Ja genau! Wir sind immer alles: Wir sind modern und revolutionär und klug, aber dann sind wir auch von Tradition und Religion bestimmt, wir haben dieses bestimmte Konzept von Leben und Lieben und all das wird enorm komplex, gerade, wenn es um ein so grosses Gebilde wie eine Familie geht. Und das macht uns alle – auch wenn ich das Wort nicht mag – zu Opfern. Frauen und Männer sind im Iran Opfer des gleichen Systems, der gleichen Erziehung. Shayda und ihr Mann sind beides Menschen mit Ängsten, mit Hoffnungen, sie möchten ein Paar sein, doch sie können nicht, weil sie ihren ganzen Hintergrund mitbringen.
Niasari: Sie muss innerhalb ihrer eigenen Kultur eine Identität finden, doch ohne deren Erwartungen zu unterliegen. Wenn sie einfach davonrennen würde – von ihrer Diaspora, von ihren Gebräuchen, ihrem Essen, ihrer Musik –, wäre das nichts als ein feiges Ausweichen. Gerade, wenn du in einem westlichen Land im Exil lebst, sind dies die Dinge, die dir Halt geben und ein Gefühl von Zuhause. Wenn du sie meidest, bringt dich das der Freiheit nicht näher.
Als das Filmfestival am Samstagabend zu Ende geht, treten Zar Amir Ebrahimi, Sina Ataeian Dena und ein paar weitere mit einem «Woman Life Freedom»-Transparent vor die Piazza Grande. Am Nachmittag, bei der Preisverleihung hat Dena eine Ansprache ans Publikum gehalten: «Ich will, dass Sie wütend sind, dass Ali nicht hier ist. Ich will, dass Sie wütend sind, dass Künstler zensiert werden, nicht nur Ali, nicht nur im Iran. Ich will, dass Sie besorgt sind, dass die Meinungsfreiheit von links und rechts angegriffen wird.»
Dass Ali Ahmadzadeh gewonnen hat, war nicht unbedingt absehbar. Aber am Ende genau so stimmig und sinnig wie der Sieg der Ukraine 2022 am Eurovision Song Contest. Und flankiert von den Geschichten von Zar Amir Ebrahimi und Noora Niasari eine Entscheidung, die Locarno heuer eine zugleich traurige und von Hoffnung vibrierende Dringlichkeit verleiht.
«Shayda» hat noch keinen Starttermin in der Schweiz.
Das macht die Einstiegsfrage doch nur noch legitimer. Nach der Antwort auf selbige habe ich übrigens auch aufgehört, zu lesen - dieses Rumgeopfere muss ich mir nicht antun.